Das All ist eine Achterbahn
Kolja Mensing
Frank Zweig ist ein alter Bekannter. Als junger Mann und
angehender Physiker hatte er sich in Ulrich Woelks Debüt
"Freigang" in eine ödipale Wahnvorstellung geflüchtet
und war in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik
eingeliefert worden. "Ich habe meinen Vater umgebracht"
So begann der Roman aus dem Jahr 1990. Seitdem hat Ulrich Woelk fünf
weitere Romane, ein Theaterstück und eine Erzählung
veröffentlicht, und jetzt, fünfzehn Jahre nach dem
Erscheinen seines hochgelobten Debüts, hat er seinen
Ich-Erzähler von damals wiederbelebt. "Die Einsamkeit des
Astronomen" beginnt damit, daß Frank Zweig, der
mittlerweile etwa vierzig Jahre alt ist, nach Köln fährt,
um gemeinsam mit seiner Schwester den elterlichen Haushalt
aufzulösen: Der Vater, den er damals in seiner Phantasie
ermorden wollte, ist nun wirklich gestorben.
Doch das ist nicht der einzige Grund für die Reise. Frank
Zweig hat sich für mehrere Wochen von seiner Arbeit beurlauben
lassen, weil man ihm "seitens des Forschungsressorts der
Europäischen Union vorwirft, für die Zerstörung von
astronomischen Instrumenten im Wert von mehr als drei Millionen Euro
verantwortlich zu sein". Über diese lakonische Mitteilung
hinaus erfährt man zunächst nicht mehr, als daß es in
der Schwarzschild-Sternwarte einige Monate zuvor einen Unfall gegeben
hat und daß der Physiker sich "der Forderung der
europäischen Bürokratie nach einem Bericht" gefügt
hat und im Haus der Eltern nun seine "Sicht der Dinge" zu
Papier bringen will.
"Zwanzig, dreißig Seiten. Um mehr geht es gar nicht",
hatte man ihm in Brüssel mitgeteilt. Frank Zweig wird "hier,
in jenem Zimmer, in dem ich einst aufgewachsen bin", jedoch mehr
rekonstruieren als nur die letzten Wochen eines desaströsen
Forschungsprojektes. Während er an seinem immer weiter
ausufernden Manuskript arbeitet, streift Zweig durch das Haus der
Eltern und stößt dabei auf die Bruchstücke der
eigenen Vergangenheit. In einem alten Urlaubsfoto, das ihn gemeinsam
mit seinen Eltern in "verblaßten Farben" an einem
Strand in Spanien zeigt, entdeckt er die ersten Anzeichen späterer
Entfremdung und Einsamkeit. Ein Schnappschuß seiner
"schmerzlich jungen" Schwester erinnert ihn an einen
erotisch zunächst recht verheißungsvollen und dann
"ziemlich unspektakulären" Besuch in ihrer Wohnung im
alten West-Berlin, und auf einer verblichenen Ansichtskarte, die er
als Student in der Provence geschrieben hat, ist von der
Verweigerungshaltung gegenüber den Eltern nur noch eine
Andeutung geblieben: "Ich genieße das Leben, hatte ich
unter anderem notiert, und das sollte wohl heißen: Hier kann
ich es genießen."
"Die Einsamkeit des Astronomen" ist aus zahlreichen
solcher Rückblenden zusammengesetzt, zu denen auch das Sterben
des Vaters in der bedrückenden Atmosphäre eines
Krankenhauszimmers gehört und die traurige Geschichte eines
ungeborenen Kindes, durch das der unwillige Sohn Frank Zweig beinahe
selbst zum Vater geworden wäre. So wird der Bericht für die
Beamten in Brüssel zu einer "Lebensbeichte".
Für den Erzähler verbindet sich damit allerdings kein
Gefühl der Erleichterung, sondern die bedrückende
Verpflichtung, die scheinbar willkürlichen Erinnerungssplitter
und "entzeitlichten Augenblicke in eine Kontinuität"
zu überführen. Doch eine Biographie ist nur eine Illusion,
glaubt Frank Zweig, die allein der Tatsache geschuldet ist, "daß
wir nicht in der Lage sind, den Faden der Zeit zu verlassen".
Der Erzähler, der selbst seine intimsten Empfindungen im Tonfall
einer wissenschaftlichen Versuchsbeschreibung formuliert, bekennt,
daß er vor allem deshalb Physiker geworden sei, um sich "die
Welt auf Distanz zu halten". Es ist also kein Zufall, daß
Ulrich Woelk an verschiedenen Stellen auf "Homo Faber"
anspielt: Genau wie der Techniker in Max Frischs Roman im malerisch
über der mexikanischen Wüste aufgehenden Mond nur "eine
errechenbare Masse" und "eine Sache der Gravitation"
erkennen wollte, so verbindet sich auch für den Astronomen mit
dem Blick in den Himmel kein metaphysisches Erlebnis, sondern allein
die Bestätigung für den reibungslosen Ablauf "einer
über jede Kritik erhabenen Faktenmaschine".
Und selbst für die ressourcenverschlingende und
wissenschaftlich zweifelhafte Beobachtung eines möglicherweise
"erdähnlichen Planeten" in der Umlaufbahn eines
"namenlosen Hauptreihensterns", die für seinen leicht
exzentrischen Kollegen Lozki im Wahnsinn und für die
Forschungskommission in einem finanziellen Super-GAU endet, hält
dieser "Homo Zweig" noch eine trotzige Erklärung
bereit: "Die meisten Astronomen", so behauptet er,
"glauben, daß wir als intelligente Spezies im Universum
nicht allein sind." Doch die Suche nach der "zweiten Erde"
ist nichts anderes als eine Flucht vor dem Dasein auf der ersten
Erde.
Frank Zweig erträgt es einfach nicht, daß das Leben
nicht den gleichen Gesetzen folgt wie der Himmel, und so will er auch
die scheinbar zusammenhanglosen Ereignisse seiner eigenen Biographie
in eine physikalische Modellvorstellung zwingen, nach der das
Universum "möglicherweise nur Teil eines wie auch immer
gearteten höherdimensionalen Ganzen ist" und der scheinbar
geradlinige Lebenslauf in Wirklichkeit einer chaotischen
Achterbahnfahrt gleicht. Geradezu zärtlich widmet sich Ulrich
Woelk, der selbst promovierter Physiker ist, dieser Hilflosigkeit,
mit der der "unerschütterlich rationale" Frank Zweig
nach Erklärungen für etwas sucht, das man früher
"Schicksal" und heute vielleicht "Kontingenz"
nennt. Gleichzeitig demonstriert er, daß die Literatur der
Naturwissenschaft zumindest in einer Sache etwas voraushat. Mit der
Gattung des Romans ist das "höherdimensionale Ganze"
der theoretischen Physik bereits Wirklichkeit geworden, und so ist
"Die Einsamkeit des Astronomen" trotz seiner Zeitsprünge
und der Zersplitterung in zahlreiche Erinnerungsbilder ein
kunstvolles und in sich geschlossenes Universum geworden. Zuletzt
merkt man dann auch, wie weit die Strecke ist, die Ulrich Woelk als
Schriftsteller seit seinem Debüt zurückgelegt hat. In
"Freigang" hatte er seiner Figur Frank Zweig geradezu
emphatisch einen Ausweg aus dem Dilemma des eigenen Daseins
versprochen. In seinem auf berührende Art abgeklärten Roman
"Die Einsamkeit des Astronomen" läßt er dem
Physiker, der sein Leben lang in den Himmel geschaut hat und am Ende
einen sehnsuchtsvollen Blick aus einem Flugzeugfenster wirft, jetzt
nur noch die "Faszination des Vakuums". Also nichts.